"ÜberLeben" - Im Gespräch mit Reinhold Messner
Pünktlich zu seinem 70sten Geburtstag erschien im September 2014 Reinhold Messners Buch "ÜberLeben". Unter dem durchaus doppeldeutig gemeinten Titel skizziert der bekannte Bergsteiger und Abenteurer in Wort und Bild seinen Lebensbogen, erzählt, wie Überleben in der archaischen Welt funktioniert und welche Bedeutung dies im Alltag einer bürgerlichen, zivilisierten Welt haben kann. In seinem wohl tiefgründigen und persönlichsten Werk ringt er um Begriffe wie Mut, Leidenschaft und Verantwortung, Ehrgeiz und Scham. Am 07. April 2016 ist Messner mit seinem Live-Vortrag, der ebenfalls den Titel "ÜberLeben" trägt, in der Braunschweiger Stadthalle zu Gast. In einem Interview verrät Reinhold Messner, was die Gäste bei diesem spannenden Vortragsabend erwartet.
Reinhold Messner gilt als einer der bekanntesten Bergsteiger der Welt. Als erster Mensch hat er auf allen vierzehn Achttausendern. (Foto: Privat)
Herr Messner, was ist neu an Ihrem neuen Buch und Vortrag?
Ich werde Geschichten erzählen, die vor allem auf dem Thema Eigenverantwortlichkeit aufbauen. Das Besondere an der wirklichen Abenteuerei ist, dass es in absoluter Eigenverantwortung stattfindet. In unserer Zivilisation hingegen sind wir ja ununterbrochen abgesichert. Das heißt, unsere Zivilisation, die seit 10.000 Jahren bequemer und bequemer wird, ist ja nichts anderes, als eine Absicherungshysterie.
Sehen Sie das als Problem der modernen Gesellschaft?
Das ist sicher etwas negativ ausgedrückt, denn der Mensch will das ja haben und das verstehe ich auch. Letztlich suchen auch die Abenteurer nach Absicherungen, aber dort, wo das nicht mehr möglich ist, findet das wirkliche Abenteuer statt. Und dann kommt eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Mut, mit Angst, mit Eigenverantwortung, mit Kreativität, mit Gott und dem Tod ins Spiel. Die Perspektive wird eine andere, als wenn ich eben brav und versichert, in einer normgeprüften Umgebung meiner Arbeit nachgehe und mir gar nicht bewusst ist, dass mir jederzeit ein Ziegel auf den Kopf fallen kann.
Wie viele Bücher haben Sie überhaupt geschrieben?
Es sind an die 50 eigenständige Bücher. Darüber hinaus habe ich auch einige Titel in Verantwortung als Herausgeber übernommen, aber diese zähle ich nicht als eigenständige Bücher.
Sie sagen, dies sei Ihr mutigstes Buch bislang?
Ja, das ist so, in den anderen Büchern habe ich von Abenteuergeschichten erzählt, von Expeditionen. In "ÜberLeben" geht es in 70 Kapiteln von Heimat bis Tod. Ich sage hier ganz radikal, was ich dazu denke.
Sie sind oft ganz allein unterwegs gewesen, an lebensfeindlichen Orten. Wie geht man mit dieser Einsamkeit um?
Einsamkeit ist eine sehr vage Angelegenheit. Viele Singles in einer großen Stadt sind verlorener, als ich es in der Antarktis war. Das Alleinsein ist nur ein größeres "exponiert sein", ich kann meine Zweifel nicht teilen. Ich wollte aber auch schauen, ob ich das allein kann, ohne die Hilfe und Unterstützung eines Partners. Ich habe lange gebraucht bis ich soweit war, tage- oder wochenlang ganz allein in schwieriger Situation zu sein. Aber ich habe auch das gelernt, man kann eigentlich fast alles lernen.
Die moderne Zivilisation sehnt sich nach immer besserer Absicherung und wird aus Ihrer Sicht immer bequemer. Sie monieren, dass Eigenverantwortlichkeit verlorengeht. Wie meinen Sie das?
Ich will das nicht verallgemeinern. Mir ist das sterile Dasein in einer abgesicherten Welt zu wenig. Der Alpinismus ist eine großartige Möglichkeit, für einen kurzen Moment aus der gesicherten Welt, die auch ich brauche, auszusteigen, in eine archaische Welt. Dabei geht es vor allem um Erfahrungen und nicht um Rekorde, und nicht darum zu sagen: Ich habe den Everest oder andere Achttausender bestiegen. Wichtig ist mir: Ich will primäre Erfahrungen in einer archaischen Welt machen.
Zum Thema Religion: Sind Berge für Sie heilig und wann gilt denn ein Berg überhaupt als heilig?
Ich behaupte, dass vor 5.000 Jahren noch fast alle Berge als mythologisch angesehen worden sind. Die Berge waren unzugänglich, man konnte und hat sie nicht bestiegen außer, es waren nur Hügel und man hat dort oben Schafe gehütet. Aber ein Berg, der auf den Menschen einen großen Eindruck machte, war ein unbestiegener Berg. Die Himalayaberge waren noch bis vor gut 100 Jahren mehr oder weniger alle heilig. Der Kailasch, der heiligste Berg der Welt, war ja nur ein Symbolberg für den gesamten Himalaya. Die Alpen sind inzwischen völlig banalisiert, hier gibt's kaum noch heilige Plätze. Das liegt daran, weil wir einen Zugang haben. Wir wandern oder klettern da oben völlig selbstverständlich.
Vor zwei Jahren sind Sherpas am Mount Everest nach einer schrecklichen Katastrophe in einen Streik getreten. Wie beurteilen Sie diese Aktion?
Diese Aktion fußt auf einer sehr komplexen Geschichte. Darüber werde ich in meinem Vortrag auch erzählen. Ich war zu diesem Zeitpunkt zufällig vor Ort und konnte die Situation genau beobachten. DieSherpas - Sie müssen sich das vorstellen - die Sherpas sind bereits einen Monat bevor die Mount Everest-Touristen kommen, zu 500 an der Zahl am Berg und präparieren für diese eine Piste auf den Gipfel. Sie waren noch nicht ganz fertig, als es einen schlimmen Unfall gab. Die Sherpas müssen sehr lange in den Lawinen- und Steinschlaggefährdeten Räumen arbeiten. Den Touristen aus Europa, Amerika, Neuseeland und von wo auch immer sie kommen, wird dadurch eine Aufstiegsmöglichkeit geschaffen, mit Hilfe derer sie diese gefährlichen Passagen so schnell als möglich durchsteigen können.
Sie haben Ihre Eindrücke vom aktuellen Run auf den Mt. Everest beschrieben. Wie soll das weitergehen? Kann ich ein paar Jahren den Aufstieg als Pauschalreise bei Neckermann buchen?
Sie können den Mt. Everest heute schon buchen für 50.000 bis 100.000 Dollar. Es ist ein Geschäft geworden und hat nichts mehr mit Alpinismus zu tun. Menschen befriedigen mit dem Aufstieg auf den Mt. Everest ihre Eitelkeit - eine Erfahrung wie früher ist das nicht mehr. Dieses Massengeschäft hört erst auf, wenn jeder Nachbar auch mal auf dem Gipfel stand und der letzte Hauch Exklusivität weg ist, aber das kann noch 100 Jahre dauern. Es ist wie es ist. Wichtig wäre, dass die anderen Gipfel im Himalaya als wilde Berge von diesem Rummel verschont bleiben. Wenn tatsächlich in ein paar Jahren private Weltraumfahrten für viel Geld angeboten werden, dann verlagert sich das Interesse der Eitelkeit vielleicht auch dorthin.
War es die Sehnsucht nach Selbsterkenntnis, die Sie zu Ihren Expeditionen getrieben hat?
Es war die Sehnsucht, hinter den nächsten Horizont zu schauen. Denn ich bin ein Horizontsüchtiger. Ich bin immer noch neugierig, will wissen, was noch möglich ist. Und Sehnsucht ist ja auch eine Sucht. Nur wenn sich die Sehnsucht einfach auflöst, weil das Einverständnis mit dem begrenzten Leben, dem Nichts am Ende da ist, erst dann ist die Gelassenheit perfekt. Ich versuche täglich, mich dem zu nähern.
Aber wenn Sie draußen in der Natur unterwegs sind, haben Sie da manchmal nicht Angst, keinen Ort mehr zu finden, an dem nicht schon Menschen sind?
Unser Hunger nach dem Besonderen hat dahin geführt, dass bestimmte Orte, die früherer Wildnis waren, jetzt regelrecht überlaufen sind. Auf dem Mount Everest geht es heute zu wie auf der Kaufinger Straße in München. Im vergangenen Jahr war ich dort und das Basislager war drei Kilometer lang, ungefähr 500 Meter breit und dort standen rund 1000 Zelte. Alle zwei Tage wurden die Toiletten ausgeflogen, da lag kein Müll, alles war geregelt. Aber umgekehrt gibt es heute mehr menschenleere Flächen als noch vor 50 Jahren. Es gibt Landstriche, so groß wie die Bundesrepublik, die hat seit einem halben Jahrhundert kein Mensch betreten. Und das finde ich großartig. Die Leute gehen alle aufs Matterhorn, auf den Mont Blanc, den Mount Everest und zum Skifahren nach Südtirol. Viele andere Flächen in den Alpen sind dagegen Wildnis. Darum habe ich keine Angst, dass ich in meinem Leben je nach Wildnis suchen muss.
Klettern und Bouldern sind Trendsportarten, werden demnächst vielleicht sogar olympisch. Wie stehen Sie zum modernen Klettersport?
Bouldern ist eine großartige Trendsportart. Früher hat das jedes Kind gemacht, als es im Gebirge war, allerdings haben wir es damals noch nicht "Bouldern" genannt. Dieser Sport braucht Kreativität, Schnellkraft, Geschicklichkeit ich finde das prima. Bouldern ist aber natürlich kein Alpinismus, genauso wenig wie das Klettern in der Halle auch ein schöner Sport. Bouldern ist für mich ein wenig wie Kunstturnen. Nur ein kleiner Prozentsatz der Sportler, auch nur ein kleiner Prozentsatz der Kletterer, geht später wirklich in die Berge. Wenn sie das tun, machen viele allerdings eine explosive Karriere.
In Vortag und Buch "ÜberLeben" werden die Zuschauer einen sehr persönlichen Reinhold Messner kennenlernen. Manch anderer würde da vielleicht sagen, dass diese Dinge zu privat sind.
Ich dürfte keine Vorträge machen, wenn ich nicht bereit wäre, etwas von mir preiszugeben. Das ist mein Schlüssel zum Vortrag. Ich erzähle nicht irgendwelche sterilen, handwerklichen Bergsteigergeschichten, sondern ich erzähle, was mit mir passiert, wenn ich mich diesen archaischen Welten ausliefere, mit den Gefahren, mit den Anstrengungen, mit der Einsamkeit. Viele Leute waren schon mal einsam und fragen sich: Wie macht der das so ganz allein da oben? Und ich erzähle ihnen, dass das eigentlich gar nicht so schlimm ist.
Sie sind im November vergangenen Jahres mit Ihrer neuen Vortragsreise quer durch Deutschland gestartet. Welche Parallelen gibt es zwischen Buch und Vortrag und wie lassen sich 70 Kapitel in 90 Minuten unterbringen?
Der neue Vortrag ist dem Buch angelehnt, allerdings werde ich im Vortrag nicht 70 Themen behandeln sondern die Essenzen dessen herauspicken. Ich lege Wert darauf, dass ich einer bin, der von vielen Reisen zurückgekommen ist. Ich bin einer der wenigen aus meiner Generation, die überlebt haben. Ich erzähle die Geschichten so, dass sie jeder verstehen kann ohne selbst Bergsteiger zu sein. Ich erzähle nicht davon, wie viele Haken ich benutzt habe oder wie viele Tage ich unterwegs war das interessiert niemanden. Im neuen Vortrag geht es mir darum, was wir über unser Menschsein erfahren, wenn wir uns in diese Höhe begeben, wenn uns dieser Angst und dieser Zweifel und dieser Einsamkeit ausliefern? Darauf versuche ich Antworten zu geben.
Wir bedanken uns recht herzlich für diesen spannenden Einblick in Ihre Welt des Abenteuers.
Beitrag: Reisefibel / Kerstin Lautenbach-Hsu