"Halbvolle und halbleere Gläser"
Sicherlich kennst Du das Gefühl, das einen beschleicht, wenn man mitten in der Nacht sein Auto in einer dürftig beleuchteten Tiefgarage sucht. Wasser tropft von der Decke, wie in einem schlechten Horrorfilm. Die Neonlampen flackern, anstatt durchgehend zu leuchten, und lassen Dich an eine Verschwörung von Elektrizitätswerk und Parkhausbetreiber glauben. Eigentlich wartest Du nur darauf, dass das Quitschen von Fred Krügers Klingenhänden an den Betonwänden widerhallt und Dein Ende einläutet.
Was? Du kennst das nicht? Du hörst sogar Schritte hinter Dir und denkst, dass Du die schwarz gekleidete Person, die ihre Kapuze tief ins Gesicht gezogen hat und somit nur die vernarbten Haut an ihrem Kinn in dem fahlen Licht der Deckenlampen zu sehen ist, fragen könntest, ob sie Dir beim Suchen Deines Autos hilft? Okay, dann gehörst Du definitiv zu den Menschen, bei denen das Glas grundsätzlich halbvoll ist. Du denkst positiv, bist optimistisch und solltest die Gesellschaft von Leuten wie mir weitestgehend meiden, um nicht plötzlich vor einem halbleeren Glas zu stehen.
Nun bringt es recht wenig, über Optimusmus und Pessimismus zu sinnieren. Der Auftakt zu diesem Beitrag sollte Dich lediglich mit dem bekannt machen, was ein fast alltäglicher Bestandteil unseres Lebens ist: die Angst!
Der Grund, warum ich Euch, liebe Leser, etwas über Angst erzählen möchte, ist ganz einfach. Etwa eine Woche vor Weihnachten hat mich eine wahre, wirklich fürchterliche Angst ergriffen: die Angst, dass ich das komplette Weihnachtsfest in einer Schreinerwerkstatt verbringen muss.
Das Ganze begann einige Wochen vor dem Fest, als mich meine Eltern mir von der grandiosen Idee erzählten, mir einen neuen Herd schenken zu wollen. Gesagt, getan. Ein paar Tage später war das Gerät bei einem Elektromarkt bestellt, bei dem für gewöhnlich keine Blöden einkaufen, und trotz der Vorfreude, mir in Zukunft wieder ein Pizza zubereiten zu können, die nicht auf der linken Seite verkohlt und auf der rechten tiefgefroren ist, ging das Leben weiter.
Auf jeden Fall bis zu dem Tag, an dem besagter Markt bei mir anrief und mir mitteilte, dass sie am kommenden Freitag (exakt eine Woche vor Heilig Abend) den Herd liefern würden.
Das war auch der Zeitpunkt, an dem ich bemerkte, was ich die ganze Zeit über vergessen hatte. In all dem Vorweihnachtstrubel und dem Stress mit Familie, Freunden und meinen Meerschweinchen war mir völlig entfallen, Angst zu bekommen.
Ein neuer Herd ist zwar nett, aber wie würde das supermoderne Monstrum aus gebürstetem Stahl wohl aussehen, wenn ich es in meine alte Schrottküche einbauen würde? Nein, es war völlig klar, dass ich die Küche von Grund auf erneuern musste. Ein leicht mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus, während ich die Spüle, den alten Herd und die Dunstabzugshaube demontierte und dann jeden Schrank (mit Hilfe von Hammer, Brecheisen und Handkreissäge) fein säuberlich in seine Einzelteile zerlegte. Das mulmige Gefühl steigerte sich zu einem mittelmäßigen Unbehagen, als ich in der nackten Küche stand und den Dreck der letzten Jahre an den Wänden kleben sah, der vorher so schön von den Küchenschränken versteckt worden war. An den Stellen des Raumes, die halbwegs sauber waren, sammelten sich kleine Berge von Holzsplittern und Sägemehl, das die Handkreissäge beim Zerlegen der Schränke hinterlassen hatte.
Das erwähnte Gefühl des Unbehagens kämpfte ich nieder, indem ich einfach nicht daran dachte. Stattdessen nahm ich den Herd an, stellte ihn ins Wohnzimmer, fuhr zu einem namenhaften Baumarkt, kaufte für dreihundert Euro Küchenschränke und Arbeitsplatte, stellte das Ganze ebenfalls im Wohnzimmer ab, bemerkte, dass ich die Hälfte an Accessoires vergessen hatte, fuhr erneut zum Baumarkt, spendete dem von der Wirtschaftskrise gebeutelten Unternehmen weitere einhundert Euro und verwandelte mein Wohnzimmer mehr und mehr in ein Lager für noch nicht zusammengebaute Küchenmöbel.
Und dann schlug die Angst unbarmherzig zu. Meine Küche war leer, das Wohnzimmer umso voller, es blieben noch sechs Tage bis Heilig Abend und wie das bei Pessimisten (das sind die mit dem halbleeren Glas) so ist: ich sah keine Chance, dass ich die Küche bis Weihnachten komplett gezimmert hatte und ein harmonisches Fest verbringen konnte.
Hier ist sie also, die Angst. In diesem Fall ist sie von ganz besonderer Natur, denn sie unterscheidet sich maßgeblich von dem, was im Allgmeinen darüber behauptet wird, nämlich, dass es sich dabei um einen natürlichen Schutzmechanismus des Menschen handelt, der ihn dazu antreibt, in Gefahrensituationen die Flucht zu ergreifen.
Zu Fliehen hätte in Anbetracht der Rumpelkammer, die ich bis dahin mein Wohnzimmer genannt hatte, recht wenig Sinn gemacht. Im Gegenteil. Die Küche hätte sich nicht von selbst aufgebaut, und das instinktive Gefühl, Weihnachten in einer Schreinerwerkstatt verbringen zu müssen, wäre bittere Realität geworden. Also tat ich das einzig Sinnvolle. Ich gab mich meiner Angst nicht hin, sondern baute, hämmerte und fluchte, was das Zeug hielt, mit dem Ergebnis, dass ich bereits am Dienstag vor Weihnachten (also drei Tage früher) meine neue Küche in Betrieb nehmen konnte.
"Hab ich ja gleich gesagt", wird nun manch einer von denen rufen, der immer nur halbvolle Gläser vor sich stehen hat.
Fakt ist, dass diese Person recht gehabt hat. Es war durchaus möglich, die Küche rechtzeitig aufzubauen und sogar noch die Wohnung aufzuräumen. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, wie die Geschichte verlaufen wäre, wenn ich ein geborener Optimist wäre? Vermutlich hätte ich mich erst einmal in Ruhe in das ganze Chaos gesetzt und mir eingeredet, dass schon alles gut werden wird, wäre vielleicht aus Gründen der Entspannung in die Sauna gefahren, hätte ganz in Ruhe meine Weihnachtsgeschenke eingepackt, ausgedehnte Spaziergänge gemacht und einen Beitrag für meine Kolumne in BS-Live geschrieben, nur um dann an Heilig Abend festzustellen, dass es zwar möglich gewesen wäre, die Küche aufzubauen, ich durch das ständig herunter gebetete Mantra "Alles wird gut" aber viel zu wenig Motivation gehabt hatte, tatsächlich Hand anzulegen.
Das Fazit, das man daraus nun ziehen kann ist, dass es kein Grundrezept gegen Ängste gibt. Man sollte ihnen immer der Situation angemessen begegnen. Dazu ist es zunächst einmal notwendig, seine Angst zu kategorisieren. Handelt es sich um eine körperlich oder psychisch induzierte Angst, wie sie beispielsweise bei einem Herzinfarkt oder einer Angststörung auftritt? Dann hilft hier einzig und allein der Weg zum Arzt, beziehungsweise ins Krankenhaus. Wir brauchen also Hilfe von außen.
Im Gegensatz dazu, können wir uns bei imaginären Ängsten, also bei solchen Ängsten, die nur aufgrund einer übertrieben pessimistischen Grundeinstellung entstehen, auch selber helfen. Der Aufbau meiner Küche ist nur ein Beispiel für einen solchen Zustand. Tatsächlich hören wir täglich in den Medien über Ängste (hauptsächlich handelt es sich dabei um imaginäre Ängste von Wirtschaftsunternehmen und Politikern).
Nehmen wir die Angst vor einer erneuten Wirtschaftskrise. Die einfachste Art und Weise, dieser Angst zu begegnen, ist, sich so zu verhalten, dass es nicht zu derselben kommt. Sprich: Banken und Wirtschaftsunternehmen sollten einfach auf Risikoinvestitionen, Aktienpokerspiele und Immobilienroulette verzichten. Das Ergebnis ist dann eine funktionierende Wirtschaft mit entsprechender Kaufkraft des Proletariats.
Ein anderes Beispiel ist die Angst vor Terroristen, vor der Schweinegrippe oder dem eigenen Versagen in bestimmten Situationen. Das Potential für alle Gefahreneintritte ist sicherlich vorhanden, aber ganz ehrlich: wie wahrscheinlich ist es, dass einer von uns tatsächlich Opfer eines Terroranschlages wird, an der Schweinegrippe stirbt oder im Bett versagt? Eher gering.
Wägt man nun das Verhältnis zwischen möglichem Eintritt der befürchteten Katastrophe und der Energie ab, die man benötigt, um die Angst dauerhaft aufrecht zu erhalten, stellt sich das Ganze ziemlich schnell als schlechter Deal heraus.
Mein persönliches Fazit ist also: erst einmal in Ruhe darüber nachdenken, ob es sich wirklich lohnt, in Panik zu geraten, oder ob man mit Ruhe und Besonnenheit nicht weitaus mehr erreichen kann.
Und genau das wünsche ich Euch, liebe Leser: Ruhe und Besonnenheit für das Jahr 2011.
PS: Und ich bin trotzdem froh, dass ich es geschafft habe, Weihnachten mit meiner rechtzeitig fertiggestellten Küche zu verbringen.
Andreas Altwein (kontakt@andreas-altwein.de)