"Ein halbes Pfund Wahnsinn, bitte!"
"Ein halbes Pfund Wahnsinn, bitte!" Was soll das denn sein? Eine neue Kolumne? Ein Blog? Etwas Geistreiches oder einfach nur der krampfhafte Versuch, die Zeilen mit mehr oder minder sinnvollen Wortkombinationen zu füllen?
Was ist das für ein Mensch, der sich hinter diesem Titel versteckt? Genie oder tatsächlicher ein Wahnsinniger, ein Narzist, der zu wenig Selbstbewusstsein hat, um ein Profil in einem Social Network anzulegen, und dort mit seinen weiblichen Eroberungen, seiner Karriere oder den Alufelgen seines geleasten Sportwagens zu prahlen?
Also, liebe Leserinnen und Leser, um die Spannung ein wenig von Euch zu nehmen, gehen wir für den Moment einfach einmal davon aus, dass es sich bei dem Autor um einen ganz normalen Typen handelt. Nennen wir ihn Andreas. Er geht stramm auf die Vierzig zu, steht kurz vor seiner Midlife-Crisis, nicht nur weil sein Haar mittlerweile ziemlich licht geworden ist, sondern auch, weil er immer noch keinen Social Network Account hat, nicht mit unverhältnismäßig vielen weiblichen Eroberungen protzen kann und täglich mit dem Zug zur Arbeit fährt, anstatt einen Sportwagen zu leasen. Also ... ein ganz normaler Mensch.
Fast!
Es gibt da etwas, was mich von anderen Menschen unterscheidet! Ich habe den sechsten Sinn. Nein, nicht diesen Sinn, der es einem ermöglicht, die Präsenz von Toten zu spüren oder Gedanken zu lesen, sondern die Begabung, den Wahnsinn, der uns alle tagtäglich umgibt, aufzunehmen, ihn zu spüren, zu interpretieren und in Worte zu fassen und das alles nur aus einem einzigen Grund: Damit Du, liebe Leserin oder lieber Leser, ein wenig Zerstreuung findest, von der alltäglichen Einöde.
Also gut. Was soll das nun für ein Wahnsinn sein, von dem ich berichte? Die Zeitungen sind voll davon. Braucht es da tatsächlich noch einen Blogger, der das Fass zum Überlaufen bringt? Ja, das braucht es, denn die Medien berichten zwar über Amokläufer in Schulen, zusammenstürzende Zwillingstürme in New York, aber den wahren Wahnsinn, nämlich den, der uns täglich auf der Straße begegnet, und den nur Menschen mit dem sechsten Sinn wirklich erfassen können, den verschweigen sie uns.
Bevor ich zu einem Beispiel aushole, muss ich anführen, dass ich wahnsinnige Angst vor Insekten habe (oops, und da war es schon wieder das Wort "Wahnsinn"). Ganz speziell vor fliegenden Insekten mit Stacheln, also Bienen, Wespen, Hornissen und irgendwelchen Abarten dieser Spezies.
Wie ich oben schon erwähnte, bin ich einer der Personen, die mit dem Zug zur Arbeit pendeln. Das bedeutet im Klartext: 5:00 Aufstehen, Duschen, Brote schmieren, den Hintern auf's Fahrrad schwingen, zum Bahnhof fahren, nur um dann festzustellen, dass der Zug erst in 24 Minuten fährt und ich noch gut eine viertel Stunde länger hätte schlafen können.
Ich weiß nicht, was Ihr in diesem Fall so macht. Ich hole mir meist einen Cappuccino, laufe vor dem Bahnhof ein wenig auf und ab und beobachte die Leute, die entnervt auf die Uhr schauen und feststellen, dass sie viel zu früh dran sind, und ruhig noch fünfzehn Minuten länger ihren Träumen hätten nachhängen können.
So auch vor wenigen Wochen. Und nun kommen die bereits oben erwähnten Insekten ins Spiel. Diese haben nämlich im Sommer nicht nur die Angewohnheit, bereits um sechs Uhr morgens munter durch die Gegend zu schwirren, sondern auch, insektenphobiegeplagte Menschen auf einem Bahnhofsplatz aus weiter Entfernung zu erkennen und zielsicher auf diese zuzusteuern.
Es kam also, wie es kommen musste. Das verdammte Stachelvieh tauchte plötzlich vor mit auf wie ein Kampfhubschrauber des Typs Bell AH-1 Cobra, bereit mir den alles beendeten Stich zu verpassen. (Lächelt nur liebe Leserinnen und Leser aber wer eine Insektenphobie hat, denkt eben anders als normale Menschen).
So leicht habe ich mich allerdings nicht geschlagen gegeben. Statt dessen vollführte ich ein wildes Ausweichmanöver nach links. Die Wespe folgte. Dann einen kurzen Sprint nach rechts, allerdings ohne diese verflixte Bank zu beachten, die offenbar nur dort platziert worden war, um wespenflüchtige Passanten zu Fall zu bringen. Das Endergebnis bestand aus einem am Boden liegenden Kolumnenschreiber und einem durch die Luft fliegenden Pappbecher mit Cappuccino. Glücklicherweise blieben meine Klamotten von der Kaffeebombe verschont, und auch das Insekt hat vermutlich einen solchen Schreck bekommen, dass es sich zügig ein anderes Opfer suchte.
Was ich aber feststellen musste, war, dass das Zeug ungefähr den gleichen Klebegrad aufwies wie Erdbeersirup. Meine Finger pappten zusammen wie die eines Kleinkindes, das sich entschlossen hatte, sein Eis mit der Hand zu essen.
Merkwürdig, vor allen Dingen, da ich ja eher der harte Typ bin und seinen Kaffee und Cappuccino ohne Zucker trinkt.
Also der tägliche Wahnsinn: Was machen die in meinen Cappuccino? Ist er Schuld daran, dass ich trotz meiner ultragesunden Ernährung und täglichem Joggen kein bisschen abnehme, sondern mein Hüftumfang von Monat zu Monat zunimmt?
Während mir all die Schreckensvisionen von Bienen, Wespen und gesüßtem Cappuccino durch den Kopf tobten, betrachtete ich nachdenklich die braune Pfütze, die mein Getränk auf dem Bahnhofsvorplatz hinterlassen hatte.
Nun sind einige Wochen vergangen, und was soll ich schreiben? Der Fleck ist trotz einiger Regentage immer noch da. Nicht mehr so stark, und man muss schon genau hinschauen, um ihn zu erkennen, aber von einem "normalen" Kaffeefleck auf der Straße hätte ich eigentlich erwartet, dass er vom nächsten Niederschlag weggewischt wird.
Jeden Tag, wenn ich mit gerunzelter Stirn an dem unfreiwillig produzierten Bodengraffiti vorbei laufe, frage ich mich erneut, was in meinem Getränk wohl alles so drin ist. Bisher habe ich noch nicht gewagt, nachzufragen. Dafür schmeckt das Zeug einfach zu gut. Aber tief in meinem Inneren mache ich mir schon so meine Gedanken.
Andreas Altwein